- Medizinnobelpreis 1922: Archibald Vivian Hill — Otto Fritz Meyerhof
- Medizinnobelpreis 1922: Archibald Vivian Hill — Otto Fritz MeyerhofDer britische Physiologe und der deutsche Biochemiker wurden für ihre Arbeiten über die Funktionsweise der Muskeln ausgezeichnet.BiografienArchibald Vivian Hill, * Bristol 26. 9. 1886, ✝ Cambridge 3. 6. 1977; 1910 wiss. Mitarbeiter der Abteilung für Physiologie an der University of Cambridge, 1914 dort Dozent für physikalische Chemie, 1920-56 Professuren an der University of Manchester und am University College in London, ab 1926 Mitglied der Royal Society.Otto Fritz Meyerhof, * Hannover 12. 4. 1884, ✝ Philadelphia (USA) 6. 10. 1951; ab 1912 wiss. Mitarbeiter am Physiologischen Institut in Kiel, ab 1924 am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Biologie in Berlin, ab 1929 Abteilungsleiter am KWI für medizinische Forschung in Heidelberg, 1938 Emigration, ab 1940 Forschungsprofessur an der University of Pennsylvania.Würdigung der preisgekrönten LeistungDie Gleichsetzung des tierischen oder menschlichen Organismus mit der Mechanik ist so alt wie die Physiologie. Erst im 19. Jahrhundert wurden jedoch die physikalischen Erfahrungen mit den neuen Wärmekraftmaschinen, die Grundlage der industriellen Revolution waren, auch auf die tierische Ökonomie übertragen. In geschlossenen Systemen maß man die Wärmeabgabe von Tieren. Sorgfältig wurden Sauerstoffbedarf und Verbrennungsrückstände untersucht und der Stoffwechselumsatz des lebenden Organismus gleich dem einer Dampfmaschine als thermodynamisches Nullsummenspiel berechnet. Bereits 1845, als der deutsche Physiker Hermann von Helmholtz demonstrierte, dass Muskelkontraktionen mit einer Wärmeproduktion einhergehen, schien der erste Schritt zur Zerlegung des Stoffwechselprozesses in seine Einzelelemente in greifbare Nähe gerückt.Doch bald kam dieses Forschungsprogramm zum Stocken. Paradoxerweise war ein herausgeschnittenes Muskelpräparat selbst bei völliger Abwesenheit von Sauerstoff in der Lage, sowohl ein beträchtliches Maß an mechanischer Arbeit zu verrichten als auch Wärme zu produzieren. Der Zusammenhang zwischen der Verbrennung der Nahrungsstoffe und der Muskelarbeit konnte kein direkter sein. Aber wie hingen Oxidation und Muskelkontraktion zusammen?Wärme und MuskelkontraktionSchon lange war bekannt, dass die sonst pH-neutrale Muskulatur nach großen Anstrengungen eine saure Reaktion zeigt, und Milchsäure (Laktat) wurde als deren Ursache vermutet. Als die britischen Physiologen Walter Fletcher und Frederick Gowland Hopkins 1907 nachwiesen, dass Milchsäure bei Muskelarbeit nur unter anaeroben Bedingungen entstehe und nach Sauerstoffzugabe wieder verschwinde, war ein Ansatzpunkt für die Erforschung des Zusammenhangs zwischen den mechanischen und chemischen Prozessen gefunden. Verschiedene Forscher richteten ihr Interesse auf die Milchsäurebildung. Sie versprach Aufschluss über jenen Energie liefernden Zwischenschritt zu bringen, der die Muskelmechanik mit den oxidativen Stoffwechselvorgängen verband. Den Schlüssel lieferte die Thermodynamik: Nach dem Energieerhaltungssatz muss nämlich die bilanzierte Gesamtwärme der Muskelkontraktion der Summe der Energie liefernden Einzelschritte entsprechen.Es war diese thermodynamische Fragestellung, die Archibald Vivian Hill beschäftigte, doch auch für ihn war der Zusammenhang zwischen Muskelarbeit, Wärmeerzeugung, Milchsäurebildung und Kohlendioxidproduktion nicht auf eine Formel zu bringen. Hill reduzierte seine Versuchsanordnung auf einen zu messenden Parameter und untersuchte am klassischen Präparat der Physiologie, dem Froschschenkel, den Zeitverlauf der Wärmeentwicklung. Es ließen sich zwei unterschiedliche Phasen der Wärmeproduktion unterscheiden: eine unmittelbare, mit der Kontraktion verknüpfte, die Hill initiale Wärme nannte, und eine zweite Wärmephase, die verzögert nach der Kontraktion auftrat und länger anhielt. Hill bezeichnete die zweite, sauerstoffabhängige Phase als Erholungswärme. Der zeitliche Verlauf eröffnete also einen Einblick in einen zweiphasigen Stoffwechselprozess: Bei der Kontraktion selbst wird Energie ohne Sauerstoff freigesetzt und diese Sauerstoffschuld erst im Erholungsvorgang in einem zweiten oxidativen Schritt beglichen.Muskelarbeit und MilchsäureproduktionAuch Otto Meyerhof war über die Thermodynamik zur Muskelphysiologie gekommen. Im Juli 1913 hatte der junge Privatdozent vor der Kieler Philosophischen Gesellschaft in einem Vortrag die »Energetik der Zellvorgänge« diskutiert: Entscheidend sei nicht allein die Gesamtbilanz, sondern vielmehr jene Folge von Energieverwandlungen, die zwischen der anfänglichen Zufuhr von Energie, ihrer Verwendung für eine Funktion und schließlich ihrer Freisetzung als Wärme liege. Doch erst nach dem Krieg konnte er mit eigenen Untersuchungen beginnen. Wie Hill wählte Meyerhof den Umweg über die thermodynamische Bilanz, um die chemische Reaktion in ihrem zeitlichen Ablauf zu analysieren. Er zerlegte jedoch nicht die Wärme, sondern den vermuteten chemischen Prozess in einzelne Energie liefernde und verbrauchende Schritte, von denen er jeden einzeln untersuchen konnte und anschließend zu einer Gesamtbilanz aufsummierte: Zunächst zeigte er, dass die Menge der gebildeten Milchsäure sich proportional zur geleisteten mechanischen Muskelarbeit verhält. Dann konnte er nachweisen, dass die lange gesuchte Quelle der Milchsäure der Speicherzucker (Glycogen) der Muskulatur ist, womit sich die Wärmeproduktion der Milchsäurebildung berechnen ließ. Schließlich kalkulierte er nicht nur die Wärme der chemischen Verbindungen, sondern bezog auch die im wässrigen Milieu der Zelle anfallende Lösungswärme ein. Somit ließ sich Hills beobachteter zeitlicher Verlauf der Wärmeproduktion in eine chemische Reaktionsgleichung übersetzen. Am Ende fehlten Meyerhof in einem knapp 4000 Kalorien liefernden chemischen Stoffwechselprozess nur noch rund 70 Kalorien, über deren Herkunft er keine Rechenschaft ablegen konnte.Entscheidend war aber, dass Meyerhof die chemische Analyse der anaeroben mit der aeroben Phase verknüpfte: Er ging nicht von einem statischen Gleichgewicht der Ausgangs- und Endprodukte aus, sondern postulierte eine zyklische Reaktion, die viele Jahre später von Carl Ferdinand und Gerty Cori (Nobelpreis 1947) ausformuliert werden sollte. Die bei der Kontraktion gebildete Milchsäure werde in der Erholungsphase nicht vollständig, sondern nur zum Teil verbrannt, und mit diesem Energie liefernden Schritt zugleich der größere Teil der Milchsäure wieder in Glycogen zurückgebildet. Hills zwei Phasen entsprachen also den beiden Teilen einer zyklischen Reaktion.Der Mediziner und Biochemiker Meyerhof lieferte damit die energetische Bilanz jener Wärmeverteilung, die der Mathematiker Hill mit seinen ausgefeilten Thermoelementen aufgezeichnet hatte. Diese Verknüpfung von physikalischen, chemischen und thermodynamischen Daten würdigte der Nobelpreis. Wie die Laudatio verrät, war das aber nicht der einzige Grund für die Preisverleihung. Er brachte auch die im eben beendeten Krieg schwer erschütterte Überzeugung anschaulich zum Ausdruck, dass die größten Fortschritte »unabhängig sind von der Aufspaltung der Menschheit in konkurrierende Nationen«.V. Hess
Universal-Lexikon. 2012.